Autor*in: | Ole Hengelbrock |
Datum: | 10. August 2023 |
Mit der Etablierung als zweitgrößter Geber weltweit verstärkt das Auswärtige Amt (AA) spürbar seine Präsenz in humanitären Foren und internationalen Diskussionen. Die Schaffung des Bundesamts für Auswärtige Angelegenheiten (BFFA) 2020 als „Servicestelle“ war sicherlich eine Reaktion auf die Kritik vom Bundesrechnungshof, unterstreicht jedoch viel mehr den Anspruch des AA, die strategischen sowie gestaltenden Angelegenheiten gegenüber dem operativen Klein-Klein zu forcieren. Auch wenn sich daraus keine Erhöhung des Personalschlüssels ergibt, platziert sich die neue humanitäre Strategie 2024 in der „Pole-Position“.
Als strategischer Schwerpunkt ist humanitäre Diplomatie gesetzt. Für die „hands-on“ Arbeit von Hilfsorganisationen besteht ihr konkreter Einfluss in der Schaffung bzw. Wahrung des „humanitären Zugangs“ und des „humanitären Raums“. Diese sind unerlässlich für die Erfüllung der zuvordersten Aufgabe: die Verhinderung und Linderung menschlichen Leids, wo immer es auftritt. In aktuellen Konflikten können Verhandlungen und Gespräche mit Konfliktparteien, Entscheidungstragende und Gestaltungsmächte – Staaten wie auch nichtstaatliche Akteure – dazu bewegen, stärker im Interesse der betroffenen Zivilbevölkerung und im Einklang mit den humanitären Prinzipien zu agieren. Für die operative Arbeit bedeutet dies, ob und wie der freie Zugang zur betroffenen Bevölkerung, die ungehinderte Erhebung der Bedürfnisse oder die eigene Kontrolle über Programme möglich sind.
Vision, Mission und Ziele einer Strategie werden durch Aktionen glaubwürdig. Diese bleiben abzuwarten. In der Vergangenheit hat das AA in anderen Themenfeldern gezeigt, wie konkret es liefern kann. Anschaulich am Ausbau der mehrjährigen sowie flexiblen Finanzmittel auf mindestens 30 % und ihrer zunehmend nicht-zweckgebundenen Bereitstellung. Die gesteigerte Qualität der Mittel bedeutet einen großen Schritt zur Operationalisierung des „Nexus“, ermöglicht sie doch Anpassungen an die dynamischen Gegebenheiten vor Ort ohne beschränkend oder risikobehaftet zu „verzahnen“.[1]
Um glaubwürdig zu sein, hat sich humanitäre Diplomatie nicht nur in den weltweiten Krisenherden zu engagieren. Innerhalb des AA zeichnet sie sich in der Frage aus, inwieweit sie sich anderen parteilichen politischen Interessen unterordnet. Anhand der Punkte Waffen, Sanktionspolitik sowie Migration wird ihre Gestaltungskraft deutlich.
Waffen: Gegen die Enthemmung
Im Wirkungsbereich der humanitären Diplomatie liegt „ius in bello“ (das Recht im Krieg). Die Frage, welche Mittel eingesetzt werden – die Entwicklung von (künftigen) Kriegen und Konflikten – betrifft die Einsatzschwelle für Militärinterventionen, die Anerkennung von Waffen und die Zerstörungs- und Eskalationspotentiale ihrer Anwendung. Die aktuelle Renaissance von Streubomben und das deutsche Verständnis für ihre Lieferung an die Ukraine sind ein diplomatisches, politisches und moralisches Versagen. Auch wenn die wichtigsten Produzenten und Anwender nicht dabei sind, einigten sich 2008 mehr als hundert Staaten auf den Verzicht und Ächtung dieser Waffe, darunter die Bundesrepublik. Die humanitäre Diplomatie des AA kann die Bundesregierung zu Kritik anhalten und vor den langwierigen sowie schwerwiegenden Folgen der eigenen Politik von morgen warnen: Nach dem Vietnamkrieg wurden in Laos 20.000 Menschen durch Blindgänger getötet oder verletzt. 2020 waren noch 162,81 km² des Irak mit Resten von Streumunition belastet.
Ein Problem, das schon im Krieg um Bergkarabach deutlich wurde und in der Ukraine an Bedeutung gewinnt, ist der zunehmende Einsatz von Technologie und bewaffneten Drohnen. Eigentlich sollten Drohnen dazu führen, zivile Schäden zu begrenzen. Trotzdem verzeichnete das Jahr 2020 ein Anstieg um 31 Prozent von Vorfällen, bei denen Zivilisten betroffen waren. Zudem driftet diese Art der Kriegführung in den Dunstkreis der Privatisierung, da Unternehmen und Einzelpersonen, die a priori keinen Bezug zum Krieg haben, direkt in das Kriegsgeschehen involviert sein können. Die humanitäre Diplomatie des AA kann daran mitwirken, einem möglichen Wettrüsten und unkontrollierten Gebrauch von Drohnen, künstlicher Intelligenz (KI) oder autonomen Waffensystemen rechtzeitig Einhalt zu gebieten, indem sie sich für eine präventive, rechtlich bindende internationale Regulierung dieser Waffensysteme einsetzt, wie es der Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) Antonio Guterres’ in der „New Agenda for Peace“ vorschlägt: „States undertake and conclude negotiations of a legally binding instrument to prohibit and regulate autonomous weapons systems by 2026“.
Ermutigendes Beispiel für die führende diplomatische Rolle Deutschlands ist die Ottawa-Konvention 1999, welche Anti-Personenminen explizit ächtet, ihre Vernichtung regelt und zur Räumung bestehender Minenfelder und Opferfürsorge verpflichtet.Deutschlands früher Verzicht auf den Einsatz von Landminen 1996 hat dem weltweiten Verbot enormen Auftrieb verschafft. Maßnahmen des humanitären Minen- und Kampfmittelräumens und der Opferfürsorge werden seit drei Jahrzehnten finanziert.
Sanktionspolitik: Humanitäre „sell-offs“ als Parameter
Die humanitäre Diplomatie des AA kann auf interne Positionen und Rahmenbedingungen wirken, wenn politische Linien gegenüber einem Land aus humanitären Gründen überdacht werden sollten. In Syrien ist die Instandsetzung der Gesundheits- und Wasserinfrastruktur eine der vordringlichsten Aufgaben. Immer wieder entflammen Infektionskrankheiten wie Cholera aufgrund der stetigen Verarmung der Bevölkerung, des maroden Gesundheitssystems, der zerstörten Abwassersysteme und der desaströsen hygienischen Verhältnisse. Dies ist u.a. auf die Sanktionspolitik als wissentliche Folge zurückzuführen. Zudem scheuen sich Geber aus politischen Interessen vor der Finanzierung von strukturbildenden Maßnahmen. Um der Regierung keinerlei Legitimation zuzuerkennen, darf es der syrischen Bevölkerung nicht besser gehen. Nach zwölf durchlittenen Wintern muss es möglich sein, Reparaturmaßnahmen wie das Auswechseln von Fenstern in Krankenhäusern, Schulen und Wohngebäuden sowie die Instandsetzung von defekten Wasserleitungen durchzuführen.[2] In solch internen Aushandlungen kann die humanitäre Diplomatie des AA diverse internationale Verpflichtungen einbringen, wie etwa sich mit den langfristigen Folgen der Beschädigung und Zerstörung der zivilen Infrastruktur zu befassen.
Die Fachliteratur[3] und Erfahrungen von Hilfsorganisationen zeigen viele Beispiele gravierender Auswirkungen von Sanktionsregimen auf die Bereitstellung Humanitärer Hilfe. Der VN-Bericht “Protection of civilians in armed conflict” 2020 führt auf: “Humanitarian operations were also constrained by counter-terrorism and sanctions measures… have led some Governments to impose conditions on humanitarian funding and humanitarian activities that jeopardize the ability of humanitarian organizations to operate in accordance with humanitarian principles.”
Für Hilfsorganisationen höchst problematisch sind Liquiditätskrisen, die ebenfalls sanktionsbedingt durch das sogenannte „bank de-risking“ entstehen. Finanzinstitute und Banken beenden ihre operative Geschäftstätigkeit bzw. reduzieren diese auf ein Minimum, um jegliches Risiko zu vermeiden. Der „chilling effect“ führte im Irak und in Syrien zu einer Kaskade negativer Folgen: von der Schwierigkeit, Projektgelder überhaupt in das Einsatzgebiet überwiesen zu bekommen, über erhebliche Wechselkursverluste, zusätzliche Gebühren für Finanztransaktionen, höheren Verwaltungsaufwand, Rechtsunsicherheit und dadurch erforderliche externe Rechtsberatung bis hin zu regelmäßigen Zahlungsverzögerungen und dadurch bedingten Projektverzögerungen, die teilweise bis zur vorzeitigen Beendigung von Hilfsmaßnahmen führten. Hilfe, die nur dort ankommt, wo sie „extern“ ermöglicht wird, trägt zur Aushöhlung ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bei. Die humanitäre Diplomatie des AA kann bestehende Sanktionsregime stetig überprüfen und zielgerichtete Anpassungsmöglichkeiten in Bezug auf humanitäre Folgen vorschlagen. In dieser Rolle kann das AA einen regelmäßigen Dreiparteiendialog zwischen Ministerien, Banken und Hilfsorganisationen zum Problem des „bank-de-risking“ fazilitieren.
Wie integer das AA den Spielraum nutzen kann, wird in seiner Position zu „Due-Diligence“-Verfahren bei der Sicherheitsüberprüfung von Hilfsempfangenden („Begünstigten Screening“) deutlich. „Zuwendungsempfangende“ und „Endbegünstigte“ werden klar unterschieden. Im Einklang mit den Grundsätzen des Völkerrechts, der Nichtdiskriminierung und der Neutralität ist kein „Screening“ bzw. „Vetting“ von Empfangenden erforderlich.[4] Rahmenbedingen dürfen sich nicht auf Realisierbarkeit und Machbarkeit reduzieren; die Parameter sind die konkreten „sell-offs“ der humanitären Prinzipien. Erstens hat die humanitäre Diplomatie des AA innenpolitisch zu vertreten, was Humanitäre Hilfe ist und zweitens dagegen einzustehen, wie sie nicht vereinnahmt werden darf. Das unveräußerliche Recht eines Menschen auf Hilfe gilt es immerfort zu bewahren. Mehr denn je angesichts zunehmender Konditionierung, etwa dem Trend, Hilfsleistungen an die biometrische Registrierung von „Endbegünstigten“ zu knüpfen.
Besorgniserregend ist der wachsende Lobbyismus von (transatlantischen) Thinktanks, die sicherheitspolitische Interessen in humanitäre Narrative kleiden und an Geber herantragen. 2019 wurde in Venezuela aufgrund der Notlage ein „Regime Collapse“ beschrien. Als „Regional Humanitarian Disaster“ destabilisiere es die Nachbarstaaten. Bilder brennender Hilfskonvois entfachten einen „ultima ratio“ Moment – alle zivilen Mittel seien ausgeschöpft. Dabei entzündete ein Molotow-Cocktail, den ein oppositioneller Demonstrant in Richtung der Regierungstruppen warf, die Trucks an der Grenzbrücke zu Kolumbien. Statt eine Mittlerrolle einzunehmen,folgte das AA der Linie: „die humanitäre Hilfe müsse nach Venezuela gelangen, dies werde nur mit Juan Guaidó gehen.“ 2022 wurde in Syrien das Versprechen beworben, die Humanitäre Hilfe zu „retten“ mit der euphemistischen Empfehlung „Informed Action“; im Jargon mit „Begünstigten Screening“ zusammenzubringen.[5] Die schiere und resignierende Übernahme solcher Narrative hat fatale Auswirkungen für die Bereitstellung Humanitärer Hilfe sowie die Wahrnehmung Deutschlands in internationalen Beziehungen. Stattdessen kann die humanitäre Diplomatie des AA den 2019 mitinitiierten „Humanitarian Call for Action“ zur Stärkung des humanitären Völkerrechts und prinzipiengeleiteten humanitären Handelns vertreten und seine Verpflichtungen einfordern.
Migration: Dem sicherheitspolitischen Tunnelblick entgegenwirken
Hinsichtlich geplanter Mittelkürzungen im neuen Bundeshaushalt geht es nicht nur um Berechnungen, wie viele Mittel fehlen, sondern wofür diese verausgabt werden. Der Aufbau der Grenzsicherheit ist zu einer der stärksten Formen der Unterstützung des globalen Nordens für Länder des globalen Südens geworden. Migration wird zunehmend als „hybride Bedrohung“ definiert, wie etwa im NATO Strategie-Konzept. Zwar können Grenzübertritte als vermeintliches Druckmittel instrumentalisiert werden, zuletzt 2020 von der Türkei oder 2021 an der belarussisch-polnischen Grenze. Viel bedrohlicher ist jedoch, dass der militärische Tunnelblick Grenzsicherung, irreguläre Migration und Terrorismus in einem Atemzug versteht: „Helping to address border security, irregular migration, and terrorism.“ Die Reform des EU-Asylrechts in Form des “New Pact on Migration and Asylum“ passt dazu ins Bild. Das AA ist kein „Vollzugsamt“. Seine humanitäre Diplomatie kann eine Anwaltschaft übernehmen, wenn Schutzstandards in Europa untergraben und das Individualrecht auf Asyl völkerrechtswidrig entzogen werden.
Wir selbst übertreten eine „Grenze“, wenn die Erderhitzung um mehr als 1,5 Grad steigt. In einer zwei oder drei Grad heißeren Welt fällt ein Drittel der Menschheit aus der „Klima-Nische“. Mit Präventions- und Anpassungsmaßnahmen ist es nur noch bedingt möglich, den Umfang von klimabedingten Verlusten und Schäden zu begrenzen und würdige Lebensbedingungen zu erhalten. In diesen Kontexten kann – neben anderen Maßnahmen – die Entscheidung zur Migration eine adäquate Antwort auf sich verschlechternde Lebensbedingungen sein. Doch ohne angemessene politische Rahmenbedingungen und Unterstützung durch staatliche und zivile Akteure werden Klimaextreme und schleichende Umweltveränderungen eher zu Zwangsvertreibung als zu proaktiver, anpassungsfähiger Migration oder geplanter Umsiedlung führen. Die humanitäre Diplomatie des AA kann daran stricken: Migration anerkennen, andere Regierungen überzeugen und die nötigen Ressourcen sowie das Wissen zur praktischen Umsetzung geordneter Migrationsprogramme akquirieren. Solch umfassendere Maßnahmen entwickeln eine viel größere Wirkung als Projektarbeit allein.
Hieß es 2018 „Deutschland ist weltweit als professioneller, großer, humanitär glaubwürdiger und guter Geber anerkannt“, ist gegenwärtig eine enorme Verbitterung aus dem globalen Süden über die allgemeinen Prioritätensetzungen zu vernehmen. Die Erfahrungen aus der COVID 19-Pandemie sind nicht vergessen, als die Industriestaaten sich nicht zu einem Kompromiss der „Impfstoff-Ausnahmeregelung“ durchringen konnten. Neuen Unmut schüren Verzögerungstaktiken und Absagen bei „Loss and Damage“. Daher sollte die Empfehlung aus dem kürzlich erschienenen Friedensgutachten als Begleitmusik in der Erarbeitung des neuen Strategiedokuments klingen: „Die Bundesregierung muss einem Glaubwürdigkeitsverlust im globalen Süden entgegenwirken.“ In der Frage der Glaubwürdigkeit kommt humanitärer Diplomatie eine Schlüsselrolle zu, sowohl in den weltweiten Krisenherden wie auch innerhalb Deutschlands.
[1] Solch praxisorientierte Aktionen benötigt es in dem Themenfeld dringender denn je. Immer mehr Länder sind über einen längeren Zeitraum von humanitären Krisen betroffen – im Jahr 2022 lebten 83 % der betroffenen Menschen in Ländern, die sich in einer langwierigen Krise („protracted crisis“) befanden. Das AA kann sich auszeichnen, indem es den politischen Druck des Grand Bargains aufrechterhält und andere Geber inspiriert.
[2] Im „Eckpunkte Papier für die Humanitäre Hilfe – Syrien“ (Dezember 2022) führt das AA zum ersten Mal auf, dass „Early Recovery Maßnahmen“ gefördert werden können.
[3] Die Studie vom International Peace Institute wurde vom AA im Rahmen des Projekts “Solutions for Safeguarding Humanitarian Action in UN Security Council Sanctions Regimes” gefördert.
[4] Siehe AA „Handreichung Prüfung Restriktive Maßnahmen/Sanktionen (Antrag auf Bewilligung einer Zuwendung für humanitäre Hilfe aus Mitteln des Auswärtigen Amtes, Kapitel 3.12)“ vom 14.01.2022
[5] Der Bericht „Rescuing Aid in Syria” ist GIZ finanziert.
Ole Hengelbrock ist Referent für Grundsatzfragen im Referat Katastrophenhilfe-Koordination bei Caritas international. Zu seinen Schwerpunktthemen gehören die humanitäre Anwaltschaft, Lobby- und Policyarbeit.
Dieser Blog ist Teil der „Strategy Snacks“, mit denen das CHA die Erneuerung der Strategie des Auswärtigen Amtes für die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland begleitet.
Die „Strategy Snacks“ sind zum einen eine Artikelserie auf diesem Blog und zum anderen eine Online-Veranstaltungsreihe im „Out of the box“ Format zur Mittagszeit.
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