Abkehr vom Humanitarismus ?

Autor*in: Joël Glasman
Datum: 24. Mai 2024

Wie der liberale Konsens über humanitäre Prinzipien zerbricht

Der Krieg in Gaza wird als potenzieller Kipppunkt für den Nahen Osten interpretiert. Doch über diese Region hinaus stellt sich eine weitere historische Frage: Wird der Gaza-Krieg auch zu einem Wendepunkt, an dem sich liberale Demokratien vom Humanitarismus abwenden? Und gilt das auch für Deutschland?

Die Bundesrepublik hatte sich bis dahin mühsam einen guten Ruf erworben.  Ob in Afghanistan, Syrien oder der Ukraine: Deutschland engagierte sich für Nothilfe. Es gehörte sowohl zu den führenden Ländern in der Aufnahme von Flüchtlingen, als auch zu den führenden Gebernationen für humanitäre Ausgaben. Deutschland ist weltweit der zweitgrößte Geber für die humanitäre Hilfe. Menschenrechte, humanitäres Völkerrecht und Flüchtlingsrecht gehörten zum Instrumentarium der deutschen Demokratie. Es war in der Praxis nie perfekt, aber zumindest formell hielt man am Konzept der wertegeleiteten Außenpolitik fest. Bis Gaza.  

Im Gazakrieg hat die Bundesregierung die Arbeit des Internationalen Gerichtshofs (IGH) öffentlich angezweifelt. Noch bevor der höchste Gerichtshof der Vereinten Nationen über die Anklage über einen Völkermord im Gazastreifen urteilte, erklärte die Regierung, die Anklage „entbehrt jeder Grundlage “. Sie hat am vergangenen Sonntag auch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) kritisiert, als dessen Chefankläger einen Haftbefehl sowohl gegen die für das barbarische Massaker vom 7.10.2023 verantwortlichen Hamas-Führer wie auch gegen Israels Premierminister beantragte. Sie hat die Mittel für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) zwischenzeitlich eingefroren. Sie hat den Tod von 250 humanitären Helferinnen und Helfer, verglichen mit ähnlichen Ereignissen in der Ukraine, nur leise verurteilt. Stellt Gaza eine Ausnahme in der wertegeleiteten Außenpolitik dar, oder ist es nun das neue Normal, das sich in zahlreiche ähnliche Verhalten westlicher Staaten einreiht? Verabschieden sich nun liberale Demokratien vom Humanitarismus?

Die Allianz zwischen liberalen Demokratien und Humanitarismus ist etwas mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Der Westen suchte während des Kalten Krieges den Schulterschluss mit humanitären Organisationen. Humanitäre Werte ermöglichten, den Autoritarismus sozialistischer Regime zu benennen. In den Ländern, in denen Europa nicht direkt intervenieren konnte, finanzierte man Flüchtlingshilfe und Nahrungsmittel. Die Sprache der Menschenrechte fand im Kontext des Kampfes gegen den Kommunismus Eingang in den öffentlichen Diskurs.

US-amerikanische Stiftungen finanzierten nun NGOs. Während des Biafrakrieges in Nigeria (1967-1970) gaben etablierte Organisationen wie das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, Caritas Internationalis und der Catholic Relief Service ihr Debüt in Afrika. Neue Hilfsorganisationen wurden gegründet – wie Médecins Sans Frontières. In der Presse setzte sich das Wort „Völkermord“ durch, um das Massaker in Nigeria zu bezeichnen. Der Vergleich mit dem Holokaust war üblich, ohne dass man sich über Holokaust-Relativierung beschwerte. „A wie Auschwitz, B wie Biafra“, las man damals in der Presse. Die humanitären Interventionen in Kambodscha (1967-1980) und Äthiopien (1984-1985) vervollkommneten diese Allianz gegen den roten Terror. Hilfsorganisationen wurden zum Bannerträger des liberalen Universalismus.

In den 1990er war der Humanitarismus ein breiter Konsens. Der Triumph kam mit dem Zusammenbruch der Sowjetkommunismus. Für den Historiker Michael Barnett eröffnete die Wende das goldene Alter des „Liberalen Humanitarismus“. Gemeinsamer Feind war nicht mehr der Kommunismus, sondern Katastrophen im Globalen Süden: Bürgerkriege– und Naturkatastrophen wurden Anlass für einen neuen Interventionismus. Die „humanitäre Vernunft“, wie Didier Fassin schreibt, wurde zur DNA westlicher Demokratien. Anfang der 1990er Jahre gab es 6000 internationale Nichtregierungsorganisationen, zehn Jahre später waren es 26.000. Hilfsorganisationen folgten den NATO-Truppen, wenn diese in den Krieg zogen, und stützten sich dabei auf die Finanzierung des Wiederaufbaus (Afghanistan, Irak, Sahelzone). Sie verbargen durch Nothilfe die Abwesenheit von politischen Lösungen, wenn Regierungen sich weigerten, einzugreifen (Ruanda, Myanmar). Humanitäre Organisationen genossen öffentliche Anerkennung. UNHCR, Unicef, IKRK, das Rote Kreuz und MSF wurden mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wer für eine humanitäre Organisation arbeitete, genoss hohes Prestige. Der Gründer von Médecins Sans Frontières, Bernard Kouchner, wurde Außenminister, die Kommissarin für humanitäre Hilfe der Europäischen Union Kristalina Georgiewa Direktorin des Internationalen Währungsfonds, der UN–Flüchtlingskommissar António Guterres UN-Generalsekretär. Humanitäre Organisationen verhinderten weder Kriege noch Massaker, doch sie gaben dem Liberalismus ein menschliches Gesicht.

Die Allianz zwischen Liberalismus und Humanitarismus bröckelte zunächst in den USA. Der Aufruf zum „globalen Krieg gegen den Terror“ von George Bush 2001 setze neue Töne an. Die Bush-Regierung erklärte, dass das humanitäre Völkerecht nicht für die Terroristen von Al-Qaeda und die Taliban gelte. Das Gebot der „Neutralität“, ein Grundprinzip der humanitären Hilfe, wurde attackiert. Nothilfeorganisationen, die nicht nur den Opfern des Terrorismus, sondern auch den Opfern der NATO helfen wollten, wurden verdächtigt, Terrorismus gut zu heißen. Der Bruch mit dem Humanitarismus machte sich allmählich auch in Europa auf drei Ebenen bemerkbar: 

Erstens, auf der Ebene des Internationalen Rechts. Die Normen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 werden angefochten. Neue internationale Verträge wie das Valletta-Abkommen (2015), das EU-Türkei-Abkommen (2017) und zahlreiche bilaterale Abkommen unterminieren den Grundsatz der Aufnahme von Flüchtlingen. Juristische Normen werden durch bürokratische Maßnahmen außer Kraft gesetzt. Immer öfter muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte europäische Länder wegen Misshandlung von Migranten und Missachtung deren Rechte verurteilen: Griechenland, weil es auf Flüchtlinge geschossen hat, Italien wegen Misshandlungen in Lampedusa, Frankreich, weil es Babys ins Gefängnis gesteckt hat. Im Februar 2024 ermahnte der Menschenrechtskommissar des Europäischen Rats: „In ganz Europa sehen sich Einzelpersonen und Organisationen zunehmend mit Schikanen, Einschüchterungen, Gewalt und Kriminalisierung konfrontiert, nur weil sie sich für den Schutz der Menschenrechte von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten einsetzen. Die europäischen Staaten müssen diese Unterdrückung stoppen“. Liberale Regierungen greifen nicht nur internationale Normen an, sie greifen auch diejenigen an, die sie verteidigen. Italien schikaniert die Seenotrettung im Mittelmeer. Der französische Präsident verunglimpft die Helferinnen und Helfer, die „den Schleppern in die Hände spielen“. Der Krieg in Gaza macht diese Verschiebung der Haltung zum internationalen Recht nur sichtbarer.

Zweitens, auf der Ebene der Finanzierungen. Liberale Demokratien gehören traditionell zu den größten Geldgebern für humanitäre Organisationen. Zusammen stemmen Westeuropa und die USA knapp 80% des weltweiten humanitären Fundings. Die USA, Großbritannien, Norwegen, Schweden, die Niederlande und die Schweiz sind schon länger große Geber, Deutschland hat seit der Syrienkrise rasant aufgeholt, und nimmt heute weltweit den zweiten Platz bei der Finanzierung von humanitärer Hilfe ein. Doch wächst die Not schneller als die Finanzen. Das humanitäre System zeigt heute Rekorddefizite auf.

Die UN setzt 0,7% des Bruttonationaleinkommens als minimalistisches Ziel für die humanitäre sowie die Entwicklungshilfe. Nur wenige Länder erreichen diese Summe, und in vielen Ländern sinken die ODA Ausgaben sogar drastisch, wie in der einstigen selbst ernannten „humanitären Supermacht“ Schweden um fast 15% und in Großbritannien um rund ein Viertel seit 2019. Der Budgetplan der Bundesregierung für 2024 sieht eine drastische Kürzung der humanitären Hilfe von 2,7 Mrd. € auf 2,2 Mrd. € vor. Insgesamt sind die international bislang geleisteten Summen für humanitäre Hilfsleistungen dieses Jahr um ein Drittel zurückgegangen im Vergleich zum selben Vorjahreszeitraum. Einige Hilfsorganisationen stehen vor großen finanziellen Schwierigkeiten. UN-Agenturen, IKRK und NGOs entlassen Helferinnen und Helfer und schließen Projekte. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes musste sein Budget um 13% reduzieren.

Drittens, die Ebene des Diskurses. Stimmen, die daran erinnern, dass Kriegsopfer und Flüchtlinge Rechte haben, werden delegitimiert. Der Kulturkrieg gegen „Humanitätsduselei“, „Gutmenschen“ und „Weltverbesserer“ tobt. In Großbritannien hetzt die Regierung gegen den Supreme Court, weil er sich gegen die Deportationspläne von Migranten nach Ruanda stellt. In Frankreich kritisiert die Regierung den höchsten Gerichtshof der Republik, den Court Constitutionnelle, weil er einen Großteil des neuen Migrationsgesetz als verfassungswidrig einstuft. In Deutschland wurden die Richter des Bundesverfassungsgerichtshofs angefeindet, weil sie die Verfassungswidrigkeit der Leistungskürzungen für Geflüchtete feststellten.

Alleine daran zu erinnern, dass Männer, Frauen und Kinder unabhängig ihrer Religion und Hautfarbe auch Rechte haben, wird als Provokation wahrgenommen und als Relativierung vom Terrorismus. Parolen, die vor kurzem noch das Monopol rechtradikaler Parteien waren, finden Eingang in die Presse: „woke“, „Asyltourismus“, „postkolonialer Terror“. Ein „Palästina-Kongress“, der über das Leid der Zivilisten im Gazastreifen informieren soll, wird rechtswidrig vom Innenministerium aufgelöst. Einem Arzt, der für Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Gaza gearbeitet hat, wird — ebenfalls rechtswidrig, wie das Verwaltungsgericht in Potsdam feststellen musste— die Einreise nach Deutschland verwehrt. Ein studentischer Protest über den Gaza-Krieg wird an der Freien Universität aufgelöst, auch hier ohne Rücksicht auf Grundrechte.  

In Gaza wurden Krankenhäuser, Schulen und Flüchtlingslager bombardiert. Helferinnen und Helfer wurden umgebracht. Laut einer Untersuchung von Human Rights Watch haben israelische Streitkräfte von Oktober 2023 bis Mai 2024 mindestens acht Mal auf Hilfskonvois und Hilfs-Compounds mit Absicht abgeschossen. Ärzte ohne Grenzen, Medical Aid for Palestinians, World Central Kitchen und das UNRWA wurden bombardiert. Wer weiterhin die Regierung Netanjahus mit Waffenlieferungen und Parolen unterstützt, verspielt seine mühsam erworbene Glaubwürdigkeit. Wie ein hochrangiger Diplomat jüngst einem Journalisten erklärte: „Die ganze Arbeit, die wir mit dem Globalen Süden geleistet haben, ist verloren… Vergessen Sie die Normen, vergessen Sie die Weltordnung. Sie werden nie wieder auf uns hören.“  

Der Krieg in Gaza ist ein Warnzeichen. Hilfsorganisationen erkennen, dass der Aufstieg des Rechtspopulismus eine Gefahr für ihre Arbeit darstellt, weil sich der Rechtspopulismus frontal gegen humanitäre Werte wendet, und liberale Regierungen zögern dagegen zu halten oder das Spiel sogar mitspielen. Humanitäre Organisationen sollten die Zusammenarbeit mit Institutionen suchen, die sich für demokratische Werte engagieren —etwa Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen, Universitäten usw. Vor allem aber sollten demokratische Akteure hellhöriger werden für die Warnungen von humanitären Organisationen. Nicht etwa, weil Hilfsorganisationen immer gute Lösungen parat hätten. Oft ist humanitäre Hilfe nicht die Lösung, sondern nur ein erster Schritt. Doch Hilfsorganisationen haben einen scharfen Blick für Notsituationen. Sie sind daran geübt, die Warnsignale für gesellschaftliche Zusammenbrüche zu erkennen. „Die Realität der Dringlichkeit, der Zerbrechlichkeit und der Verletzlichkeit haben viele Gesellschaften der Erde vor uns erfahren“, schreibt zu Recht der Historiker Achille Mbembé.

Humanitäre Organisationen haben ein gutes Bewusstsein dafür, was in Krisenzeiten auf dem Spiel steht, und wie schnell Institutionen gestürzt werden können. Verletzungen des humanitären Völkerrechts weisen auf Verletzungen einer regelbasierten und demokratischen Ordnung hin. Oder um es mit den Worten von Walter Benjamin zu sagen: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist“.

Joël Glasman ist Historiker und Professor an der Universität Bayreuth.