Ein sehr lesenswerter Artikel der ZEIT im Vorfeld des UN World Food System Summit am 23. September erklärt, warum der Hunger weltweit wieder zunimmt. CHA-Direktor Ralf Südhoff kommt mit der Kritik zu Wort, dass auch in der Ernährungshilfe zu wenig darüber nachgedacht werde, wann und wie man humanitäre Hilfe, Entwicklungspolitik und Konfliktvorbeugung besser verzahnen sollte.
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UN-Gipfel gegen Hunger: Es bleiben neun Ernten Zeit
Trotz aller politischen Versprechen: Die Zahl der Hungernden steigt wieder. Ein UN-Gipfel soll das ändern.
Von Christiane Grefe / 16. September 2021 / DIE ZEIT
Im Jahr 2015 machten alle Regierungen der Welt gemeinsam ein großes politisches Versprechen. Sie einigten sich auf das Nachhaltigkeitsziel „Null Hunger bis 2030“. An dieser Aufgabe droht die Staatengemeinschaft zu scheitern. Das Scheitern beginnt schon mit der fehlenden Wahrnehmung des Problems: In reichen Ländern, aber nicht nur dort, sind die Dimensionen des Hungers vergessen und verdrängt. Dabei wütet er, nachdem sich die Lage in vielen Staaten verbessert hatte, wieder mehr denn je. Ausgerechnet seit 2015 steigt die Zahl derer an, die darben, leiden und sterben. Die UN zählen 811 Millionen akut Hungernde, fast ein Zehntel der Weltbevölkerung. Drei Milliarden Menschen sind ständig in Sorge, ob sie in den nächsten Wochen satt werden. Gleichzeitig gibt es 1,9 Milliarden Übergewichtige, immer mehr von ihnen in Entwicklungsländern.
Hunger und Unterernährung hier, Überangebot und Fettleibigkeit dort: Ein derart fehlgesteuertes globales Ernährungssystem schadet nicht nur den Menschen unmittelbar, es zerstört auch seine ökologischen Grundlagen. Die Agrarproduktion strapaziert Gewässer und Böden, sie befeuert den Klimawandel und reduziert die Vielfalt der Lebewesen in und auf der Erde. Politikern und Wissenschaftlern dämmert, dass beides zusammengedacht werden muss: eine gerechte und gesunde Versorgung aller Menschen mit Nahrungsmitteln und eine Runderneuerung unseres Umgangs mit Boden, Wasser, Pflanzen und Tieren. Für diesen Systemwechsel bleiben, wenn das Nachhaltigkeitsziel erreicht werden soll, nur noch neun Ernten Zeit, neun Jahre.
Für den 23. September ruft der UN-Generalsekretär António Guterres nun die Staatschefs zusammen, um über Hunger, Welternährung und Gesundheit zu beraten. Das digitale Treffen am Rand der UN-Generalversammlung soll die Erneuerung des globalen Ernährungssystems einläuten.
Guterres versucht Neues – er hat Unternehmen, Forscherinnen, Landwirte, Umweltschützer, Entwicklungsorganisationen und indigene Gruppen an der Vorbereitung des Gipfels beteiligt. Ein people’s summit soll es werden. Ein Gipfel aller für alle. Doch Michael Fakhri, der UN-Sonderbeauftragte für das Menschenrecht auf Nahrung, kritisiert: „Dies ist absolut kein people’s summit.“ Schon lange vor seinem Beginn gab es hitzige Kontroversen über Lösungen, Prioritäten und die Frage, wessen Wort zählt. Wird das Treffen zur „verpassten Chance für die Ernährungssicherheit“, wie Fakhri befürchtet – oder zur „herausragenden Chance“, wie der Agrarwissenschaftler Joachim von Braun, einer von Guterres’ Wissenschaftsberatern, es sich erhofft? Das hängt davon ab, ob Antworten auf die zentralen Fragen gefunden werden.
Warum hungern immer mehr Menschen?
Die Zunahme hat akut vor allem drei Gründe. Am schwersten wiegen die Folgen des Klimawandels. Die wachsende Unberechenbarkeit saisonaler Wetterrhythmen (wie das Auftreten des Monsuns) untergräbt angepasste Anbautraditionen. Dürren, Fluten, Stürme, Brände zerstören Felder und Wälder. In Asien hat sich der Anteil der Länder mit mehreren Naturkatastrophen pro Jahr auf mehr als 50 Prozent erhöht. Zweite Ursache: Kriege und Konflikte. Wo immer 2020 große Hungersnöte auftraten, herrschte auch Gewalt. Milizen zerstörten Felder, raubten Tiere, vertrieben die Bauern. Im ewigen Unfrieden Afghanistans hungern 4,3 Millionen Menschen, mehr als 13 Millionen sind gefährdet – unter ihnen 7 Millionen, weil eine Dürre droht. In Zentralasien oder Afrika wird gekämpft, wo der Klimawandel Äcker, Weideland und Wasser verknappt hat. Die Heinrich-Böll-Stiftung und der Berliner Nachhaltigkeits-Thinktank TMG bringen es auf den Punkt: „Hunger schafft Konflikte, Konflikte schaffen Hunger.“
Drittens hat die Corona-Pandemie 2020 fast 100 Millionen Menschen akute Not beschert. Bauern konnten während der Lockdowns ihre Erzeugnisse nicht zu den Märkten bringen und kein Saatgut kaufen. In den Städten stiegen die Nahrungsmittelpreise, während viele ihr Einkommen verloren. Schulspeisungen fielen aus.
Wieso gelingt es nicht, alle zu retten?
Es wird nicht genug getan. Not- und Nahrungsmittelhilfe ist von Madagaskar bis Haiti immer öfter gefordert, doch die Hilfseinsätze bleiben chronisch unterfinanziert. Weil Regierungen ihre Spenden überdies wieder öfter mit geopolitischen Zielen zweckgebunden vergeben, fehlen den humanitären Organisationen freie Mittel, um schnell auf Naturkatastrophen zu reagieren.
Rettung ist auch logistisch schwierig. Im Jemen, Sudan und anderen Konfliktregionen werden Lebensmittel immer wieder von Warlords instrumentalisiert, um die eigenen Leute zu bevorzugen und Gegner auszuhungern. Darüber, wie man humanitäre Einsätze, Entwicklungspolitik und Konfliktvorbeugung verzahne, dächten Politiker und Hilfsorganisationen viel zu wenig nach, sagt Ralf Südhoff, Direktor des Thinktanks Centre for Humanitarian Action in Berlin. Im Südsudan bemühe man sich seit Jahren um eine Mediation zwischen Hirten und Bauern, die um Böden streiten. „Aber internationale Helfer und Geber“, sagt Südhoff, „integrieren diese präventive Arbeit kaum in ihre isolierten Hilfsprogramme.“ Bei längerfristigen Hungerursachen fehlen oft der politische Wille und Mut zur Veränderung. Besonders bei einer: Armut.
Ist Hunger ein Verteilungsproblem?
Es wäre mehr als genug für alle da. Doch 1,8 Milliarden Menschen müssen mit weniger als 3,20 Dollar am Tag auskommen, knapp 700 Millionen sogar mit weniger als einem US-Dollar. Sie sind am verletzlichsten, wenn Missernten oder der Ausfall von Transportmöglichkeiten in der Pandemie die Preise steigen lassen. Unterernährung trifft Bauarbeiter, Rikscha-Fahrer, Arbeitslose, und sie trifft besonders Bauern und Tagelöhner, Frauen und Kinder auf dem Land. Das ist ein Versagen nationaler Regierungen, aber auch die bittere Konsequenz falscher Handelsregeln zugunsten konzentrierter Unternehmen.
„Denk an die Armen in Afrika!“ Wenn europäische Kinder früher so ermahnt wurden, war ihre trotzige Antwort nicht unberechtigt: „Es nützt doch niemandem in der Ferne, dass ich hier aufesse.“ Je mehr aber die Produktionsweisen und Lieferketten globalisiert und normiert wurden, desto mehr hängen die leeren Teller der Armen mit der Fülle in den Kühlschränken der Wohlhabenden zusammen. Reiche Konsumenten okkupieren Millionen von Hektar in Südamerika, Südostasien und Afrika mit ihren Konsumansprüchen. 57 Prozent der Weltgetreideernte werden als Futtermittel für die Tierzucht, als Energie- oder Industriepflanzen verwertet. Dafür verdrängen Plantagen oft Kleinbauern, die zuvor Lebensmittel für sich und lokale Märkte produzieren konnten.
Flächen frisst auch der ganzjährige Genuss saisonaler Produkte. Peru exportiert trotz Wasserknappheit Spargel, Weintrauben, Mangos und Paprika. Davon profitieren in den Anden vor allem Großbetriebe, während viele Dorfbewohner chronisch unterernährt sind. Gerade Ärmere äßen zunehmend „erschwingliche, ungesunde Importwaren, die als billig verarbeitete Lebensmittel reich an Fetten, Zucker und Kohlenhydraten sind“, schreibt ein Mitarbeiter der Welthungerhilfe aus Perus Hauptstadt Lima.
Was muss sich ändern?
An drei Themen müsste vorrangig gearbeitet werden: zum einen an der Gerechtigkeit beim Zugang zu Nahrungsmitteln und Land. Zum anderen an der Resilienz, der Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimaschocks und Pandemien. Drittens an der Wiederbelebung der Böden, der Wasserressourcen und Wälder.
Über die Umsetzung streiten zwei Fraktionen. Eine setzt auf technische Innovation. Firmen und Forscher wollen Drohnen, Roboter, biologische Präparate und gentechnische Verfahren einsetzen, um mit weniger Chemie und robusten Pflanzen Erträge zu erhöhen. Digitalisierung soll vom Acker bis in den Supermarkt höhere ökologische und soziale Standards ermöglichen. Kleinbauern will man in globale Lieferketten einbeziehen und ihnen so Chancen eröffnen.
Die andere Fraktion sieht das als neuen Wein in alten Schläuchen, der Betroffenen kaum hilft: „Was macht ein Kleinbauer mit einer Drohne, wenn es nicht mal Elektrizität gibt?“, fragt Michael Fakhri. „Die Frage ist: Welche Technologie kann er wirklich brauchen? Und wer kontrolliert sie?“ Der Menschenrechtler setzt auf „Agrarökologie“. Er meint damit nicht nur eine Anbaustrategie, die Klimarisiken durch Produktvielfalt minimiert. Er denkt an die soziale Bewegung aus Bauern-, Frauen- und Umweltorganisationen, aus Gewerkschaften, Wissenschaftlern, Köchen, Indigenen. Sie erkämpft bereits Landrechte für kleine Erzeuger, schreibt traditionelles Anbauwissen fort, baut Böden neu mit Humus auf. In der Stadt organisiert sie Lieferverträge zwischen Schulbehörden und lokalen Bioerzeugern, damit es kurze Wege gibt, wenn Krisen Versorgungswege abschneiden. Als fortschrittlichstes Gremium entwickelt seit Jahren der Welternährungsausschuss in Rom Verfahren und Regeln, um Zivilgesellschaften in ihrer ganzen Vielfalt an der Arbeit der UN zu beteiligen.
Was passiert beim Gipfel?
Dieser demokratische Prozess solle torpediert werden: Den Verdacht hegen viele NGOs und Experten, einige haben sich vom Gipfel zurückgezogen. Dessen Entscheidungsstrukturen seien intransparent, die Gremien undurchsichtig besetzt. Das Hilfswerk Brot für die Welt und die Menschenrechtsorganisation FIAN werfen dem Generalsekretariat vor, zu viele Fachleute stünden der Agrar- und Lebensmittelindustrie oder der Agra nahe. Diese „Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika“ ist das größte Agrarentwicklungsprojekt in Afrika. Regierungen, Konzerne und die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung hatten 2006 beschlossen, vor allem mit Agrarchemie und technischer Beratung die Ernten zu verdoppeln und Hunger und Armut bis 2020 zu halbieren. Doch die Ertragssteigerungen blieben hinter den Hoffnungen weit zurück. Für die Kritiker ist die Agra der Inbegriff eines gescheiterten Modells. Jetzt befürchten sie deren technologisch modernisierte Fortschreibung im Gipfelpapier. Auf der Agenda vermissen sie zentrale Themen: Lektionen aus der Pandemie oder den Umgang mit Kriegen und Konflikten.
Joachim von Braun hält den Vorwurf, der Privatsektor dominiere den Gipfel, für eine „Fehleinschätzung der Wirklichkeit seines Prozesses“. Er sagt: „Ohne die Ernährungs- und Agrarwirtschaft wäre er wirklichkeitsfremd.“ Dominant sei diese nicht: „Wir lernen auch vom Wissen indigener Völker, kooperieren eng mit ihnen.“ Dominik Ziller, Vizepräsident der UN-Agentur für ländliche Entwicklung Ifad, findet den Verdacht ebenfalls „nicht fair“. Alle hätten mitreden können und könnten es weiter. Der Gipfel werde der Startpunkt für einen Aufbruch.
Ein Aufbruch?
Faire Löhne, Finanzierungsmodelle, Schulmahlzeiten, Agrarökologie – das Gipfelsekretariat berät noch, welche der 2000 Lösungsvorschläge, die aus 145 nationalen und weiteren regionalen Ernährungsgipfeln in breit besetzten Gremien gebündelt wurden, in den Aktionsaufruf des Generalsekretärs und geplante globale Themengruppen einfließen. Unklar auch, ob von Brauns Vorschlag zündet, ein dem Weltklimarat IPCC vergleichbares wissenschaftliches Gremium für Ernährungssysteme zu schaffen. Auch dieser Rat ist natürlich: höchst umstritten. Aber vielleicht sind all die Kontroversen notwendig – als anhaltender Weckruf, damit der Hunger nicht weiter vergessen wird.