Die Krise in Venezuela ist ein Paradebeispiel dafür, wie humanitäre Hilfe nicht geleistet werden sollte und sogar gefährliche Auswirkungen haben kann. Die Vorgehensweise der USA verstößt gegen die Prinzipien der humanitären Hilfe und untergräbt die Arbeit von Hilfsorganisationen, kritisiert CHA-Direktor Ralf Südhoff im Interview mit dem Magazin „welt-sichten“:
Die USA wollen Hilfsgüter nach Venezuela bringen, um den selbsternannten Übergangspräsidenten Juan Guaidó zu stützen. Venezuelas Militär hat die Hilfslieferung an der Grenze abgefangen, die Regierung von Nicolás Maduro hat zwischenzeitlich die Häfen des Landes gesperrt. Ist Guaidós Aktion nach hinten losgegangen, weil Hilfe jetzt noch schlechter ins Land kommt?
Der Vorgang ist ein Paradebeispiel für das, was passiert, wenn man humanitäre Hilfe nicht als etwas grundsätzlich neutrales betrachtet, sondern versucht, sie für politische Ziele zu missbrauchen. Es gibt Hilfsorganisationen, die in Venezuela helfen können. Und es gibt einen Appell der Vereinten Nationen, der auflistet, was wer wo am dringendsten benötigt. Da ist es kontraproduktiv, wenn ein in der Region umstrittener Akteur wie die USA an diesen Strukturen vorbei eigene Hilfe ins Land bringen will – und dabei nur mit einer Konflikt-Partei zusammenarbeitet. Da kann nicht funktionieren. Der notleidenden Bevölkerung hilft man so sicher nicht.
Was bedeutet das für Hilfsorganisationen, die in Venezuela
tätig sind, sich aber gegen die einseitige Hilfe aus den USA
ausgesprochen haben?
Sie sollten noch stärker deutlich machen, dass ihre Hilfe streng neutral
ist und sie sich nicht in den Streit einmischen, wer der legitime
Präsident Venezuelas ist. Sie müssen unabhängig bleiben und allen Seiten
helfen, rein nach dem Mass der Not.
Wie groß ist der Bedarf an Nothilfe in Venezuela?
Die UN gehen von einem Hilfsbedarf von 738 Millionen Dollar für die
Bevölkerung von Venezuela und die Geflüchteten in der Region in diesem
Jahr aus, 109 Millionen davon wären als Soforthilfen direkt im Lande
nötig. Die Staatengemeinschaft hat für letztere aber bisher nicht
einmal 50 Millionen Dollar zugesagt. Die USA könnten diese Lücken
stopfen, statt mit eigenen Programmen die internationale Hilfe zu
untergraben. Das würde auch Präsident Maduro auf die Probe stellen: Er
müsste beweisen, dass er auch im grossen Stil und wirklich unabhängige
Hilfe zulässt, die bei denen ankommt, die sie am meisten nötig haben.
Also eine Hilfe, die transparent und am wirklichen Bedarf orientiert
ist. Die Hilfe wie die USA einfach an die Grenze zu bringen und einer
Konfliktpartei zu übergeben, die sie dann nach eigenem Ermessen
verteilt, widerspricht allen Grundsätzen der humanitären Hilfe sowie
Maßstäben von Transparenz, Monitoring, Effizienz, die Geber wie die USA
ja in anderen Fällen zu Recht einfordern.
Gab es in der Vergangenheit vergleichbare Fälle?
Es gab immer wieder Situationen, in denen Geber bestimmte politische
Nebeneffekte mit ihrer Nothilfe erzielen wollten. Eines der plakativsten
Beispiele war sicher der „winning hearts and minds“-Ansatz der USA nach
dem Sturz von Saddam Hussein 2003, wo – vielfach durch das Militär –
Hilfsgüter verteilt wurden, um die Einheimischen für sich einzunehmen.
Aber dass man Hilfe so plakativ instrumentalisiert und sich so deutlich
auf eine Seite stellt wie jetzt in Venezuela, ist eine neue Dimension.
Befürchten Sie schädliche Auswirkungen für die Nothilfe insgesamt?
Ja, weil es bestehende Tendenzen verstärken könnte. So wird der
ungehinderte Zugang für humanitäre Helfer immer mehr infrage gestellt,
vor allem in Kriegsregionen wie dem Jemen oder Syrien. Viele
Konfliktparteien akzeptieren die völkerrechtlichen Grundlagen der
Nothilfe nicht. Zugleich legen wichtige Geberstaaten mit der Begründung
der Terrorismusbekämpfung neue Regeln fest, die es in Frage stellen, ob
Helfer in bestimmten Regionen überhaupt noch anwesend sein oder mit
bestimmten Gruppen überhaupt reden und verhandeln dürfen, vor allem wenn
als terroristisch eingestufte Organisationen präsent sind. Studien
belegen, dass Hilfsorganitionen sich deshalb mehr und mehr scheuen, in
solchen Gegenden zu arbeiten. All das könnte dazu führen, dass Hilfe
Gebiete nicht mehr erreicht, in denen sie am wichtigsten wäre, wie zum
Beispiel in der syrischen Stadt Idlib, wo jederzeit Kämpfe eine
humanitäre Katastrophe auslösen könnte. Der Respekt für eine neutrale,
unabhängige Hilfe schwindet auf fast allen Seiten. Insofern haben die
USA mit der Aktion in Venezuela der Nothilfe einen Bärendienst erwiesen.
Wer setzt dem noch etwas entgegen?
Deutschland gehört sicher zu den Ländern, die die Prinzipien der
humanitären Hilfen hochhalten und dafür international sehr respektiert
werden. Wünschenswert wäre aber eine konsequentere politische Haltung
bei Entwicklungen vor der eigenen Haustür. Beispiel Seenotrettung: Wer
mitträgt, dass Migranten und Flüchtlinge nur sehr bedingt aus dem
Mittelmeer gerettet und dann vielfach nach Libyen zurückgebracht werden,
wo unhaltbare Zustände herrschen, missachtet humanitäre Grundsätze.
Ähnliches gilt für die Waffenexporte an Saudi-Arabien, das als
Konfliktpartei im Jemen einer der weltweit größten humanitären Krisen
dieser Zeit mitverursacht hat.
Das Gespräch führte Sebastian Drescher, Online Redaktion welt-sichten