Migration nach Europa ist ein Phänomen, das seit einiger Zeit den öffentlichen und medialen Diskurs dominiert. Carola Rackete, Matteo Salvini oder Menschen in überfüllten Booten – Bilder die täglich die Schlagzeilen prägen. Aber wie sieht es eigentlich auf dem Festland aus? Denn nicht nur auf dem Seeweg schrumpft der Raum für humanitäre Maßnahmen zusehends. Wie können humanitäre Akteure in einem restriktiven Umfeld agieren, in dem die Bereitstellung lebensrettender Hilfe und der Schutz von Menschen kriminalisiert wird? Welche Perspektiven und Lösungen sind denkbar?
Am 29. Januar 2020 veranstaltete das Centre for Humanitarian Action (CHA) zusammen mit der Groupe URD eine Veranstaltung zum Thema Migration und Shrinking Humanitarian Space in Europa, um genau diese Fragestellungen zu diskutieren. Ziel der Veranstaltung war es, Menschen aus verschiedensten Organisationen an einen Tisch zu bringen, um Herausforderungen und Lösungsansätze zum Shrinking Humanitarian Space in Europa zu diskutieren. Vertreter*innen von international und lokal tätigen NGOs, der UN, aus der Wissenschaft, aus verschiedenen Think Tanks, aber auch aus aktivistischen Kreisen nahmen an der Veranstaltung teil.
Kristina Roepstorff, CHA-Forschungsleiterin zum Shrinking Humanitarian Space, reflektierte die Faktoren, die den humanitären Raum in Europa prägen. Man könne sich den humanitären Raum wie eine komplexe politische, militärisch-rechtliche Arena vorstellen, in der eine Vielzahl an Akteuren, um Legitimität und Zugang ringt. Die Perspektive eines ‚umkämpften Raums‘ helfe, den humanitären Raum mit seinen Machtverhältnissen und den Strategien der einzelnen Akteure, besser zu verstehen. Zurzeit schrumpft der humanitäre Raum in Europa zunehmend, sei es durch die Kriminalisierung oder aufgrund von Diffamierungskampagnen und Angriffe auf Helfer*innen der humanitären Hilfe.
The humanitarian space is a contested space, and a complex political, military and legal arena.
Kristina Roepstorff, CHA-Forschungsleiterin Shrinking Humanitarian Space
Valérie Léon, Forscherin zu Solidaritätsbewegungen und zu Migration bei der Groupe URD, ergänzte Roepstorffs Überlegungen. Sie habe sich niemals vorstellen können, eines Tages in ihrem eigenen Land – in Frankreich – humanitäre Hilfe leisten zu müssen. Nach wie vor sei es ein Tabu, das Wort humanitäre Hilfe in einem europäischen Kontext, in den Mund zu nehmen. Deshalb sei auch oftmals von invisible migrants die Rede, Migrant*innen, die von der öffentlichen Politik nicht wahrgenommen würden und stattdessen zivilgesellschaftlichen Organisationen überlassen. Laut Léon dominiert Sicherheit die Belange humanitärer Bedarfe im öffentlichen Diskurs.
I never thought that I would carry out a field mission in my own country, in France.
Valérie Léon, Forscherin bei der Groupe URD
Die anschließende Diskussion griff die Vorträge von Kristina Roepstorff und Valérie Léon auf. Die Teilnehmenden diskutierten die unterschiedlichen Ansätze und Wertvorstellungen zwischen humanitären Hilfsorganisationen und Menschenrechtsorganisationen. Können die humanitären Prinzipien immer strikt angewandt werden? Wo können Synergien für Zusammenarbeit entstehen? Wie steht es um die Qualität von verschiedenen Serviceangeboten? Einig waren sich die Teilnehmer*innen, dass man sich in Europa nach wie vor schwer tut, über humanitäre Hilfe zu sprechen, und dass es endlich an der Zeit sei, Brücken zu bauen, um an einer kollektiven Antwort zu arbeiten.
Ein Protokoll der Veranstaltung steht hier zum Download bereit.
Artikel Download: 2018: Léon, Valérie, Solidarity and migratory flows (2018), Groupe URD
Publikation Download: 2019: Roepstorff, Kristina, Migration and the Shrinking Humanitarian Space in Europe, Centre for Humanitarian Action
Einer der Arbeitsschwerpunkte des Centre for Humanitarian Action (CHA) ist der Shrinking Humanitarian Space. Projektleiterin ist Kristina Roepstorff. In diesem Interview erklärt sie, weshalb vor allem lokale Helfer*innen vom Shrinking Humanitarian Space betroffen sind.
Die Groupe URD (Urgence – Réhabilitation – Dévelopement) ist ein unabhängiger Think Tank, der zu Fragen des humanitären Sektors forscht und Policy-Analysen entwickelt. Valérie Léon ist seit 2012 Forscherin und Trainerin bei der Groupe URD, wo sie sich auf Querschnittsthemen zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit konzentriert. Zuvor hat sie in verschiedenen Ländern (u.a. in El Salvador, Kosovo, Kolumbien) für den CRC und bei Médecins du Monde in Paris gearbeitet.