Darina Pellowska ist seit Juli 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Centre for Humanitarian Action (CHA). In diesem Interview aus der Reihe „Gesichter rund ums CHA“ stellt sie sich vor und erklärt, warum die Lokalisierungsdebatte in der humanitären Hilfe weiterhin ganz oben auf die Agenda gehört und wie eine partizipativere humanitäre Debattenkultur aussehen könnte.
Darina, du bist seit Anfang Juli wissenschaftliche Mitarbeiterin am CHA. Erzähl uns ein bisschen von dir: Wie kommt es, dass du nun beim CHA bist und was hast du zuvor gemacht?
Bevor ich zum CHA gekommen bin, habe ich in unterschiedlichsten Positionen in und mit verschiedenen Hilfsorganisationen gearbeitet, wie zum Beispiel CARE Deutschland, Malteser International, der Welthungerhilfe und dem Roten Kreuz . Das kommt mir heute sehr zugute. Denn dabei konnte ich einen umfassenden Überblick über die Strukturen und Arbeitsweisen in der deutschen humanitären Hilfe gewinnen – von der Arbeit in den Projekten und Programmen, über Controlling und Finanzen bis hin zu Evaluationen und Rechenschaftslegung. Dabei sind mir immer wieder spannende Themenfelder und Fragestellungen begegnet, mit denen ich mich gern tiefergehender auseinandergesetzt hätte. Deshalb entschied ich mich Ende 2016, ein Promotionsstudium aufzunehmen. Durch die Förderung der Heinrich Böll Stiftung konnte ich mich seitdem intensiv mit dem Thema Risikoverteilung und -entwicklung in humanitären Projektnetzwerken beschäftigen. Nun, in der letzten Phase meiner Promotion, bin ich sehr glücklich, als wissenschaftliche Mitarbeiterin am CHA die Möglichkeit zu haben, weiteren spannenden praxisrelevanten Themen nachzugehen und zu einem partizipativen Austausch beizutragen. Ich beschäftige mich zum Beispiel mit Lokalisierung und Partizipation, humanitärem Zugang und humanitärer Diplomatie sowie Daten- und Informationsmanagement in humanitären Kontexten.
Am CHA arbeitest du unter anderem im Forschungsprojekt zum Shrinking Humanitarian Space. Lokalisierung, ein Thema, dass spätestens seit dem World Humanitarian Summit 2016 viel diskutiert wird, spielt auch in diesem Bereich eine große Rolle. Was findet deiner Meinung nach bisher im (inter)nationalen Diskurs zu wenig Beachtung?
In Zeiten immer neuer Einschränkungen des humanitären Handlungsraumes für internationale NGOs, wird eine verstärkte und gleichberechtigtere Zusammenarbeit mit lokalen und nationalen Organisationen aus dem Globalen Süden oft als perfekte Lösung angeführt. Doch auch diese haben mit nicht immer wohlgesinnten Regierungs- und Geberrichtlinien zu kämpfen – manchmal sogar mehr als ihre internationalen Kolleg*innen. Da schließt sich für mich die Frage an, in welchen Situationen und Kontexten welche humanitären Akteur*innen die beste Hilfe leisten können. Dabei kommt es aus meiner Sicht nicht so sehr auf geographische Label, wie „lokal“ bzw. „international“ an. Solche Kategorien sind allzu theoretisch. In der Praxis wird eine internationale NGO, die seit Jahrzehnten in einer Gemeinde tätig ist, von Gemeindemitglieder*innen zum Beispiel oft gar nicht so „international“ wahrgenommen und andersherum.
Als soziale Netzwerkforscherin betrachtete ich humanitäre Organisationen daher eher unabhängig von ihrer geographischen Position, sondern eher nach ihrer Position in sozialen Netzwerken. Neben der Zusammensetzung der beteiligten Akteur*innen und der Verteilung ihrer Interessenslagen, sind vor allem die Beziehungsstrukturen im jeweiligen Handlungsraum interessant – und genau das findet im internationalen Diskurs meiner Meinung nach bislang zu wenig Beachtung. In manchen Kontexten kann es von Vorteil sein, in einer Region bereits längerfristig tätig gewesen zu sein und über die entsprechenden Kontakte – also soziale Netzwerke – zu verfügen. Das kann hilfreich sein, um selbst kleinste humanitäre Handlungsräume schnell erkennen und nutzen zu können. In anderen Situationen kann genau das aber auch von Nachteil sein, weil sich die Bevölkerung als relevanteste Akteur*innengruppe in der humanitären Hilfe etwa eher unabhängige, unvernetzte humanitäre Helfer*innen wünscht und diese als kompetenter oder vertrauenswürdiger wahrnimmt. Hierbei gibt es also noch viele spannende Forschungsfelder, die ich am CHA gern in enger Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen und anderen Akteur*innen beleuchten möchte.
Neben deiner Tätigkeit am CHA schreibst du zurzeit am Institut für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik (IEE) und dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum an deiner Dissertation zum Thema „Risiken in humanitären Projektnetzwerken“. Dafür bist du auch längere Zeit im Südsudan unterwegs gewesen. Was genau untersuchst du in deiner Arbeit – kannst du schon einen Ausblick geben, welche Forschungsergebnisse du hast?
In meiner Forschung geht es um soziale Netzwerke, das heißt zwischenmenschliche Beziehungen, die bei der Umsetzung von humanitären Projekten entstehen. Ich untersuche welchen Einfluss sie auf die Verteilung und Transformation von Risiken haben. Dazu habe ich drei Projekte zu Schulessen im Südsudan für zwei bis drei Monate begleitet: Um solch ein Projekt erfolgreich durchzuführen, müssen eine Reihe verschiedenster Akteur*innen zusammengebracht werden – von den lokalen Organisationen, die in Zusammenarbeit mit internationalen NGOs die Hilfe gestalten, koordinieren und umsetzen, den Lieferant*innen und Zuliefer*innen, den Schul- und Elternvertreter*innen, politischen Vertreter*innen der jeweiligen Gemeinden und lokalen, regionalen und nationalen Behörden bis hin zu den Schüler*innen, für die das Schulessen bestimmt ist. Dieses komplexe projektbasierte Netzwerk kann sich, je nach Art und Struktur der Beziehungen zwischen den Akteur*innen untereinander, unterschiedlich auf die Risiken auswirken, mit denen humanitäre Hilfsprojekte konfrontiert sind. So kann eine sehr enge Beziehung zwischen NGO-Mitarbeitenden und lokalen Behörden, Autoritäten und, in meinem Fall, der Lehrer*innenschaft zum Beispiel dazu beitragen, das Risiko des Missbrauchs von Hilfsgütern erheblich vermindern. Andererseits erleichtert eine sehr starke, enge Beziehungsstruktur innerhalb einer exklusiven Akteur*innengruppe wie der eben beschriebenen auch immer die Möglichkeiten für Manipulationen.
Ein Phänomen ist zum Beispiel die Übertragung von Risiken entlang von Machtgefällen innerhalb eines Beziehungsnetzwerkes: Während internationale Hilfsorganisationen die Verantwortung für die reibungslose, prinzipien- und vertragskonforme Projektumsetzung zum Beispiel oft an von ihnen abhängige lokale Partner*innen übertragen, geben diese die Verantwortung gern an lokale Autoritäten, wie Behörden und politischen Vertreter*innen weiter. In den von mir besuchten Schulprojekten nahmen diese dann ihrerseits letztendlich einzelne Schuldirektor*innen und Lehrer*innen in die Pflicht, wenn es Probleme gab. In meiner Zeit im Südsudan verloren so nicht wenige Lehrer*innen ihren Job, weil sie sich entweder nicht an der Manipulation von Schulessenprojekten durch lokale Eliten beteiligen wollten und diesen somit ein Dorn im Auge waren. Oder weil sie es doch taten und somit als letztes Glied in der projektbasierten Verantwortungskette die Konsequenzen tragen mussten, wenn sie dabei erwischt wurden.
Diese Wechselwirkung zwischen Beziehungsstruktur und Risikoverteilung, -transfer und -transformation ist der Kern meiner Dissertationsarbeit. In meiner Arbeit beschreibe ich diese verschiedenen Dynamiken und komme zu der Erkenntnis, dass neben der Beziehungsstruktur der beteiligten Projektakteur*innen untereinander, auch machtpositionsübergreifende Beziehungen und die erweiterten sozialen Netzwerke einzelner Akteur*innen über das Projektnetzwerk hinaus entscheidend dafür sind, wie sich die Risiken bei der Umsetzung von Hilfsprojekten entwickeln und verteilen.
Vor deiner Tätigkeit am CHA hast du als Freiberuflerin verschiedene humanitäre NGOs beraten und dich dabei unter anderem intensiv mit den Themen Accountability for Affected Populations (kurz erklären) und Partizipation beschäftigt. Wie möchtest du diese Erfahrungen in deine Arbeit am CHA einfließen lassen?
In meiner Arbeit als freie Consultant ist mir immer wieder aufgefallen, wie wichtig Hilfsorganisationen, sowohl im Globalen Süden als auch im Globalen Norden, die Rechenschaftspflicht gegenüber ihren jeweiligen Gebern (die sogenannte „upward accountability“) ist. Es wird sehr viel Zeit und Energie darauf verwendet, Anträge und Berichte zu schreiben und Zahlen und Belege zusammenzutragen. Gleichzeitig musste ich feststellen, dass leider nicht immer dieselbe Sorgfalt und Energie auf die entsprechende Einbindung der Hilfsempfänger*innen (das heißt für die sogenannte „downward accountability“) aufgewendet wird. Obwohl sie und ihre Bedürfnisse doch eigentlich im Mittelbunkt der humanitären Arbeit stehen sollten. Das fand ich immer sehr paradox. Als freie Beraterin habe ich Organisationen deshalb u.a. dabei unterstützt Mechanismen zu entwickeln, die den sogenannten Projektbegünstigten eine starke Stimme bei der Entwicklung und Umsetzung von Hilfsprojekten geben.
In humanitären Policydebatten erleben wir ein ähnliches Ungleichgewicht: Diskussionen über neue Ideen, Konzepte und Policies werden sehr isoliert vor allem in den Geberländern des Globalen Nordens geführt. Praktische Inputs von Mitarbeiter*innen und Projektbeteiligten aus den einzelnen Umsetzungsregionen vor Ort fließen weiterhin nur sehr schwer und indirekt in die Debatten mit ein. Das konnte ich vor allem in meiner Zeit im Südsudan beobachten. Spannende und innovative Ideen von südsudanesischen Kolleg*innen aus der operativen Arbeit wurden oft nur berücksichtigt, wenn internationale Kolleg*innen der Policyebenen sie in die entsprechenden Foren gebracht haben. Das muss sich unbedingt ändern! In unserer vernetzten Welt gibt es bereits viele Mittel und Wege, eine direktere Beteiligung und gleichberechtigtere Diskussionen zu ermöglichen. Wir müssen sie nur nutzen. Deshalb möchte ich meine Arbeit am CHA auch dazu nutzen, um direkte Partizipationsmechanismen für Beteiligte aus der operativen Projektarbeit und der Zivilbevölkerung in den Umsetzungsländern zu stärken.
Das Interview führte CHA-Kommunikationsreferentin Lena Wallach im August 2020.