Autor*in: | Ralf Südhoff, Goda Milasiute |
Datum: | 06.05.2021 |
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Das Jahr 2021 könnte eine wichtige Zäsur für die globale humanitäre Hilfe wie auch den Grand Bargain (GB) zu ihrer grundlegenden Reform werden. Die COVID-19 Pandemie steht für die Zuspitzung einer Serie von grundlegenden humanitären Herausforderungen, die auch das 2016 auf dem Humanitären Weltgipfel (WHS) beschlossene Reformpaket GB in den folgenden fünf Jahren adressieren sollte. Die Ergebnisse des Grand Bargain und seine Zukunft werden im Juni 2021 diskutiert. Dieses CHA Paper analysiert, was die globale Initiative bislang erreicht hat, was die deutsche Bundesregierung und die Zivilgesellschaft hierzu beigetragen haben, und was die Herausforderungen sind für einen möglichen „GB 2.0“.
In 10 Thesen fasst es die bisherigen Erfolge und Grenzen der führenden Reforminitiative des humanitären Systems zusammen:
1. Das Jahr 2021 könnte eine wichtige Zäsur für die globale humanitäre Hilfe wie auch den Grand Bargain (GB) zu ihrer grundlegenden Reform werden. Die COVID-19-Pandemie steht für die Zuspitzung einer Serie von grundlegenden humanitären Herausforderungen, die auch das 2016 auf dem Humanitären Weltgipfel (WHS) beschlossene Reformpaket GB adressieren sollte. Dabei gelang es mit dem GB einen Prozess zur Reform der humanitären Hilfe anzustoßen, der so inklusiv und umfassend ist wie kein Zweiter, indem er vier humanitäre Akteursgruppen zusammenbringt: Regierungen, Internationale Organisationen (IOs), Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie die Rotkreuz- / Roter Halbmond- Bewegung.
2. Fünf Jahre nach dem WHS hat der GB wichtige Diskussionen entfacht und vielfach auf der Mikroebene Pilotprojekte und Programme angestoßen und so Potenziale von großer Relevanz identifiziert, vielfach auch angetrieben oder unterstützt von der deutschen Bundesregierung. Gleichwohl hat der GB bislang auf der Makroebene sehr selten Prozesse nachhaltig verändert oder eine Systemrelevanz entfaltet, die für substanzielle Reformen stünde.
3. Entsprechend blieb der GB mit Blick auf viele seiner Initiativen bislang überwiegend Output-orientiert und erzielte selten umfassende Wirkungen (Outcomes). Die hier als prozessrelevant definierten Ziele des GB (mehr Transparenz, flexiblere Finanzierungen und Bürokratieabbau) materialisieren sich vielfach in interessanten Pilotprojekten, nur selten aber in einer Veränderung der Prozesse selbst. Die hier als systemrelevant definierten Ziele des GB setzten wichtige Initiativen in Gang. Sie konnten aber grundlegende Fragen etwa zur Lokalisierung der Hilfe und einer „Revolution der Partizipation” von Akteur*innen aus dem Globalen Süden sowie zu Querschnittsthemen wie einen integrierten Nexus-Ansatz, Gender- oder Innovationsfragen noch nicht entscheidend voranbringen. Die Verantwortung für wichtige Fortschritte und schleppende Umsetzungen der GB-Ziele liegt sowohl bei Regierungen wie auch UN-Agenturen und NGOs.
4. Das deutsche öffentliche Engagement im GB hat beachtliche Erfolge erzielt. Das finanziell weiterwachsende, große humanitäre Engagement der Bundesregierung geht mit einer Zunahme mehrjähriger Förderungen, einfacheren Berichtsverfahren und Ansätzen für eine „antizipative Hilfe“ einher, welche das humanitäre System weit effektiver und effizienter machen kann. Gleichwohl mangelt es oftmals an Transparenz und es kommen auch deutsche Initiativen nur zum Teil über einen Pilotstatus hinaus.
5. Auch die Resultate von internationalen sowie deutschen Hilfsorganisationen mit Blick auf ihre GB-Verpflichtungen sind gemischt und die Kritik einer „Rosinenpickerei“ je nach Organisationsinteresse verbreitet. Unter UN-Agenturen und NGOs mangelt es teils an Transparenz in ihrer Selbstauskunft auf die im GB formulierten Ziele, einschließlich des von NGO Seite besonders unterstrichenen Ziels einer zivilgesellschaftlichen Lokalisierung der humanitären Hilfe und ihrer Mittel.
6. Eine künftige thematische Fokussierung auf strategisch für den GB besonders relevante Themen wie Lokalisierung, bessere Finanzierungsmodelle und Geschlechtergleichheit erscheint geboten. Hierfür braucht es zugleich klare Ziele und Indikatoren, wie diese jenseits der Projektebene durchgesetzt und strategisch vorangebracht werden können. Hierbei tragen Geberinstitutionen aufgrund ihres Einflusses eine besondere Verantwortung untern den GB Unterzeichner*innen.
Einflussreiche Geber wie die deutsche Bundesregierung sollten sich daher dafür einsetzen,
a) dass im Bereich der Lokalisierung internationale Hilfsorganisationen es begründen müssen, wenn sie nicht mit lokalen Partner*innen vor Ort zusammenarbeiten. Zur Förderung des lokalen Kapazitätsaufbaus könnte ein Prozentsatz an Verwaltungsausgaben zur Weiterleitung an lokale Partner*innen in Programmförderungen festgeschrieben und anteilig vom deutschen Auswärtigen Amt (AA) übernommen werden; Kooperation auf Augenhöhe von IOs und NGOs mit lokalen Akteur*innen sollte zu einem relevanten Finanzierungskriterium werden, um mittelfristig einen Systemwandel zu ermöglichen. Auch gemeinsame Fonds (pooled funds) sollten für Lokalisierungsanstrengungen noch weit stärker genutzt werden, da sie administrativ überlastete Geber wie Deutschland entlasten und Organisationsinteressen zurückdrängen können. Zugleich muss der Zugang zu diesen für lokale Akteur*innen etwa durch Schulungen und ihre Partizipation in allen entscheidenden Gremien vor Ort ermöglicht werden.
b) dass beim Thema Qualität der humanitären Finanzierungen flexible Programm- statt Projektförderungen zur Regel und die GB-Ziele für mehrjähriges und flexibles Funding substanziell umgesetzt werden, insbesondere von anderen großen Gebern. Vorschläge wie die elf „best practice examples“ im „Catalogue of quality funding“ (FAO, DI, und NRC 2020) sollten ernsthaft aufgegriffen werden. Auch in diesem Zusammenhang rücken immer stärker gemeinsame Fonds in den Vordergrund, um Mittel flexibel und transparent zu vergeben. Die meisten Geber sind jedoch weit entfernt vom WHS Ziel, 15 % ihrer Mittel über solche Fonds einzusetzen.
c) dass geschlechtersensible bzw. -transformative humanitäre Hilfe als Querschnittsthema ernst genommen wird, indem ein stärkerer Fokus auf die inhaltliche und transformative Qualität in Förderentscheidungen gelegt wird versus eines „Box-ticking“ in Projektanträgen. Die Wirkung der Programme muss durch nachvollziehbare Indikatoren erhoben und zur Grundlage künftiger Förderungen werden.
7. Um den GB prozess- und systemrelevant zu machen, ist eine Re-Fokussierung des Reformvorhabens auf strategische Fragen, politisches Momentum und an Zielen messbare Reformprojekte notwendig. Zugleich gilt es auch im GB-Kontext den zunehmend bedrohten humanitären Raum und seine Prinzipien zu schützen. Für den Schutz der humanitären Prinzipien braucht es Allianzen von Akteur*innen des GB-Prozesses, die sich zunutze machen, dass die Konfliktlinien in diesem Kontext vielfach auch innerhalb der beteiligten multimandatierten Institutionen und Organisationen verlaufen.
8. Auch in der deutschen humanitären Hilfe und ihrem GB Engagement gilt es die humanitären Prinzipien noch konsequenter zu achten. Einerseits hat die Bundesregierung wichtige politische Initiativen zum Schutz der humanitären Prinzipien und des Völkerrechts ergriffen. Andererseits stehen diese teils im Widerspruch zu anderen Ansätzen der Bundesregierung wie einer Vermischung von humanitären und sicherheitspolitischen Zielen in GB-relevanten Nexus-Fragen oder einer deutschen und europäischen Migrations-, Seenotrettungs- und Waffenexportpolitik, die zu einem inkohärenten humanitären Engagement führen. Auch institutionell sollte die humanitäre Hilfe im AA durch die Schaffung einer eigenständigen, personell substanziell ausgebauten „Abteilung H“ gestärkt werden.
9. Die Dynamik des Humanitären Weltgipfels (WHS) und damit des GB wurde 2016 entscheidend entfacht durch international hochrangiges politisches Engagement, u.a. der deutschen Bundeskanzlerin. Eine solche Dynamik im Sinne des GB und der humanitären Reform ist erneut erforderlich. Hierfür wäre beispielsweise auf deutscher Seite eine höhere Priorisierung der humanitären Hilfe auf der obersten Leitungsebene im AA geboten.
10. Gelingt es, die oben genannten Veränderungen anzugehen, könnte der GB ab 2021 zu einem Katalysator werden für Reformen einer humanitären Hilfe, die angesichts einer Rekordzahl von Menschen in Not heute so wichtig ist wie selten zuvor und gerade deshalb sich grundlegend verändern muss.
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