Autor*in: | Andrea Steinke |
Datum: | 9. Februar 2021 |
Um auf die auch durch die Corona-Pandemie gestiegenen Bedarfe zu reagieren, sollten internationale humanitäre Akteure Lokalisierung durch das Abgeben von Verantwortung an lokale Akteur*innen vorantreiben, Netzwerke stärken und humanitäre Prinzipien reflektieren. Die Bundesregierung sollte als wichtige humanitäre Geberin für einen Systemwandel einstehen.
Aus humanitärer Sicht war 2020 vor allem eins: ein verzweifelter Versuch, die bescheidenen Errungenschaften jahrzehntelanger Arbeit nicht wie Sand zwischen den Fingern verrinnen zu sehen. Neben Konflikten und dem Klimawandel war COVID-19 die größte Herausforderung des Jahres 2020. Mark Lowcock, Leiter des Amtes der UN für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) machte im Dezember 2020 deutlich, dass besonders die Sekundäreffekte der Pandemie die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Macht zementieren: steigende Nahrungsmittelpreise, gesunkene Einkommen, ausgesetzte Impfprogramme, Schulschließungen. Hunger wurde wieder zu einem allumfassenden Thema der humanitären Hilfe, ebenso extreme Armut: 2021 werden weltweit 736 Millionen Menschen von ihr betroffen sein. Durch die Corona-Pandemie sind die humanitären Bedarfe extrem gestiegen: Mit 235 Millionen Menschen werden 2021 40% mehr auf humanitäre Hilfe angewiesen sein.
Die Corona-Pandemie zeigt die Notwendigkeit zur Veränderung des humanitären Systems
Internationale humanitäre Organisationen, spezialisiert und professionalisiert darauf, instabile Systeme vor allem im sogenannten Globalen Süden im Katastrophenfall zu unterstützen, halfen zu Beginn der Pandemie kontinentaleuropäischen Krankenhäusern, Gesundheitssystemen und versorgten Individuen. Ist deshalb jemand auf die Idee gekommen, Ärzte ohne Grenzen in Frankreich als lokale NGO zu betiteln, wenn sie Pariser Krankenhäuser mit ihrer Expertise dabei unterstützt, Infektionsschleusen einzurichten?
Nein, denn humanitäre Hilfe arbeitet im Bewusstsein vieler immer nur in eine Richtung, nämlich nach unten, im Sinne der Geographie, des zugeschriebenen Status und der sozialen Klasse. COVID-19 hat die Welt ein bisschen auf den Kopf gestellt. Im Frühjahr 2020 sind trotzdem nur 0,1% der internationalen Finanzmittel für die Bekämpfung der Pandemie direkt an nationale und lokale Organisationen im globalen Süden gegangen, obwohl sie unweigerlich den besseren Zugang hatten, insgesamt vielfach besser aufgestellt waren und adaptiver auf die volatile Situation reagieren konnten.
Die Bundesregierung als wichtige Akteurin des internationalen Systems sollte die Coronapandemie als Anlass nehmen für einen Perspektivwechsel im Jahr 2021. Konkret sollte sie ihre humanitäre Unterstützung in den folgenden Bereichen entscheidend reformieren: Lokalisierung, Netzwerke und Fragen humanitärer Prinzipien.
Lokalisierung vorantreiben – aber nicht nur anlassgebunden
Es liegt scheinbar auf der Hand, dass wenn ausländische humanitäre Expert*innen in ihrer gewohnten Mobilität eingeschränkt sind, die Strukturen vor Ort gestärkt werden müssen. Lokalisierung bedeutet die Umverteilung von Entscheidungsgewalt, Ressourcen, und damit Macht. Sie darf nicht bloße Rhetorik, ausschließlich anlassgebunden und Vehikel zur Systemstabilisierung sein. Stattdessen sind sowohl der Beweggrund als auch der Weg entscheidend für den Erfolg der Lokalisierung humanitärer Hilfe.
Lokalisierung bedeutet die Umverteilung von Entscheidungsgewalt, Ressourcen, und damit Macht. Sie darf nicht bloße Rhetorik, ausschließlich anlassgebunden und Vehikel zur Systemstabilisierung sein.
Konkret bezogen auf die Bemühungen der Bundesregierung heißt das: sie sollte Lokalisierung nicht nur als eine Fleißübung in der Partnerschaftssuche begreifen. Der Weg ist bereitet, Deutschland kommt den Verpflichtungen des Grand Bargain, der Reformvereinbarung aus 2016 zwischen den größten humanitären Gebern und NGOs, zur Lokalisierung von Geberzuwendungen weitgehend nach. ToGETHER, das Pilotlokalisierungsprojekt des Auswärtigen Amtes – vier deutsche Organisationen mit 40 lokalen und nationalen Partnerorganisationen in acht Ländern – ist ein weiterer Schritt. Lokalisierung heißt aber auch, lokale Organisation nicht nur von Beginn an in den Planungs- und Entscheidungsprozessen einzubeziehen, wie es in den Leitlinien zu Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedensförderung in Bezug auf Übergangshilfe heißt, sondern sie, ihr Handeln und ihre Expertise in allen Prozessen vorne anzustellen.
Ben Ramalingam von der OECD bemühte dazu kürzlich eine schöne Metapher: humanitäre Hilfe als gemeinsame Autofahrt. Die dominierenden Akteure sind daran gewöhnt am Steuer zu sitzen. Gerade überlegen sie als Fahrlehrer auf den Beifahrersitz zu wechseln. Vielleicht sitzen sie auf einigen Wegstrecken aber tatsächlich schon längst auf dem Rücksitz, summen laut brummbrumm, während eigentlich andere fahren. Besser wäre es, so Ramalingam, anzuhalten und gemeinsam Alternativen zu überlegen.
Ein solcher Wandel steht bevor, auch begünstigt durch die Pandemie. Jene, die bisher am Steuer saßen – damit sind auch explizit die deutschen humanitären und Friedensakteur*innen gemeint – müssen sich nun entscheiden, ob sie Beschleuniger, Bremse oder Geräuschimitator in diesem Prozess sein wollen.
Netzwerke in den Mittelpunkt stellen
Der Netzwerkgedanke, der Entscheidungshoheiten und Handlungsoptionen auf zahlreiche verschiedene humanitäre Akteure verteilen möchte, ist der richtige Weg. Network Humanitarianism darf sich aber nicht zufriedengeben, einfach mehr Netzwerke zu schaffen. Das Netzwerk muss der Mittelpunkt des Handelns sein, über Selbstzweck hinausgehen und wirkliche Alternativen schaffen, beispielsweise bezogen auf die Organisationsstrukturen der sogenannten internationalen Gemeinschaft. Diese Organisationsformen unterscheiden sich oft maßgeblich von denen lokaler Selbstorganisation in ihren Rahmenbedingungen und ihrer Semantik. Selbst wenn sie formell nicht ausgeschlossen werden, haben lokale Organisationen oft weder die Zeit noch die Mittel und tatsächlichen Zugänge, an den entsprechenden Netzwerktreffen, Clustermeetings und Steuerungsrunden teilzunehmen.
Dilemmata der humanitären Prinzipien für alle benennen
Darüber hinaus ist der Fokus auf humanitäre Prinzipien, deren Einhaltung von lokalen Partnerorganisationen der Bundesregierung strikt eingefordert wird, eine schwer zu überwindende, teils unmögliche Herausforderung. Lokale Basisorganisationen – jene Organisationen, die vor Ort über das höchste Maß an Kontextwissen und Legitimität verfügen – agieren oft nicht neutral, sie können und sollten es vielleicht auch nicht. Genauso wenig wie die deutsche Bundesregierung in ihrem Handeln interessenlos am Zustand der Welt und den Konsequenzen ihres Handelns für das eigene System ist, sind es kleinere, lokaler agierende Organisationen. Hugo Slim, ehemaliger Policy-Chef des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, stellte kürzlich die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit den humanitären Prinzipien? Vor allem auch unter dem Eindruck der Corona-Pandemie rät er dazu, sich langsam, aber sicher von der Dominanz des schweizerischen Modells prinzipiengeleiteter humanitärer Hilfe als alleingültigem Weg zu verabschieden und den Weg frei zu machen für neue Akteure und Ansätze. Das heißt keineswegs, dass die Bundesregierung sich von humanitären Prinzipien frei machen sollte. Es bedeutet aber, die damit einhergehenden Dilemmata klar zu benennen und Alternativen zu finden – sowohl für Geberorganisationen wie die Bundesregierung als auch für lokale Organisationen. Hier darf es keine Doppelstandards gehen.
Strukturen und Haltung verbinden, um die Beteiligung lokaler Akteure zu stärken
Sich hinterfragen, Platz machen und leisetreten. Das heißt konkret, dass es wohl erst einmal unbequem werden wird. Echter Wandel muss für jene unbequem sein, denen in ihrer Position bisher sehr wohl war. Es heißt auch, sich als humanitäre Akteure auf eine Art von fundamentaler Unsicherheit einzulassen, der ein großer Teil der Welt schon lange vor COVID-19 ausgesetzt war. Es heißt, nicht nur Strukturen zu ändern, sondern auch eine andere Haltung anzunehmen.
Echter Wandel […] heißt auch, sich als humanitäre Akteure auf eine Art von fundamentaler Unsicherheit einzulassen, der ein großer Teil der Welt schon lange vor COVID-19 ausgesetzt war.
Ähnlich wie bei der Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit braucht es hier beides: sowohl eine Kehrtwende der inneren Haltung als auch strukturelle Maßnahmen, z.B. Gremienquoten und Trainings auf allen Hierarchieebenen. Struktur und Haltung müssen ineinandergreifen und sich gegenseitig befruchten. Das ist zugegebenermaßen nicht die leichteste Übung. Auch im Centre for Humanitarian Action (CHA) bleiben wir bisher hinter unseren eigenen Ansprüchen zurück, was die Besetzung des Teams, der Veranstaltungen, die Autor*innenschaft und Themen betrifft.
Deutschland sollte mehr Haltung zeigen
Dass ein „Weiter-so“ nach der Pandemie nicht funktionieren wird, zeichnete sich schon vor COVID-19 ab. Der Zusammenhang von Klimawandel und der für das humanitäre Standardprozedere notwendigen Mobilität von Gütern und Menschen wurde bereits 2019 kritisch diskutiert. Auch den Humanitären geht es durch COVID-19 an die Substanz, denn die finanziellen Mittel vieler Organisationen werden nicht verlängert. Oxfam beispielsweise hat in 18 Ländern Projekte geschlossen und 1500 Menschen entlassen.
Die Bundesregierung sollte als zweitgrößte humanitäre Geberin bei ihren Bemühungen um Friedenssicherung unter dem Eindruck massiver humanitärer Notlagen in der Welt einen Sinneswandel einleiten.
Oft wird in jüngeren humanitären Debatten der Ruf nach Demut und Bescheidenheit laut. Richtig, das darf aber keinen Anlass zur Untätigkeit geben. Es braucht die aufrichtige Bereitschaft, sich unbequemen Fragen zu stellen und Alternativen zu finden. Hier kommt Deutschland eine besondere Rolle zu. Von vielen Seiten wird Deutschland zu mehr beherztem Eintreten in der Welt aufgefordert. Das deutsche Zögern ist berechtigt, mit historischer Schuld und Verantwortung zu erklären. Jedoch gehört zu einem ehrlichen Wandel auch, sich einzugestehen, dass Deutschland ohnehin längst eine zentrale Rolle innehat, wenn auch nicht fahnenschwenkend im Vordergrund. Die Bundesregierung sollte als zweitgrößte humanitäre Geberin bei ihren Bemühungen um Friedenssicherung unter dem Eindruck massiver humanitärer Notlagen in der Welt einen Sinneswandel einleiten, zur eigenen Haltung wie zu den Strukturen, die sie mit erschaffen möchte. Sich ehrlich machen, ehrlich auftreten und dort, wo es geboten ist, bei Seite treten.
Andrea Steinke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Humanitarian Action (CHA). Zu ihren Forschungsinteressen zählen Lokalisierungs- und Versicherheitlichungsdynamiken, die Anthropologie humanitärer Hilfe und das Nachleben von Interventionen.
Dieser Blogbeitrag wurde am 13. Januar 2021 auf dem PeaceLab Blog von GPPi veröffentlicht.
Relevante Beiträge
The Triple Nexus in Practice: Challenges and Options for Multi-Mandated Organisations
22.10.2020„Der Triple Nexus macht viele Dilemmata der humanitären Hilfe sichtbar“. Andrea Steinke im Interview zum Triple Nexus.
03.04.2020Haiti Ten Years After Douz Janvye
31.01.2020